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Der Pandemie-Wortschatz

Der Corona-Wortschatz

Vor zwei Jahren überrollte die COVID-19-Pandemie die Welt und hatte viele neue Wörter im Gefolge: „Social Distancing“, „Covidiot“, „Zwangslockdown“, „zoomen“, „Coronageburtstag“... Ob ernst oder lustig: die Corona-Wörter haben uns jedenfalls gezeigt, dass unsere Sprachen lebendig sind und dass die lexikalische Kreativität keine Grenzen kennt, auch wenn die Anglizismen im deutschsprachigen Raum (leider?) überrepräsentiert waren.


Wenn die meisten Neubildungen verschwunden sind, hat diese außergewöhnliche Situation die Neuaufnahmen in den Wörterbüchern stark beeinflusst:

  • In Frankreich haben z.B. 60 bis 70% der Neuzugänge des berühmten Wörterbuchs Petit Larousse illustré im Jahre 2022 eine Beziehung zur Pandemie.

In Österreich und Deutschland hat sich die Situation im „Wort des Jahres 2020“ widergespiegelt:

  • In Deutschland wurde das Wort Corona-Pandemie gewählt.

  • Und in Österreich Babyelefant, und zwar, weil die Regierung erklärt hatte, dass der Meter Abstand der Größe eines „Babyelefantes“ entsprach, was zu lustigen Gesprächen geführt hatte: „Aber ich weiß nicht, wie groß ein Babyelefant ist, ich habe ja niemals einen Babyelefanten getroffen! Und ist es wirklich ein ''Babyelefant'' oder ein Elefantenkind?“ In der Gastronomie war es sogar üblich, Abstandsbabyelefante aus Holz oder Kunststoff vor den Lokalen zu platzieren, damit die Kundschaft sehen kann, wie groß in der Wirklichkeit der Meter Abstand war!


in Österreich haben sich plötzlich alle gefragt, wie groß ein „Babyelefant“ ist


die Regierungskommunikation mit dem „Babyelefant“ ging sehr weit


Lexikalische Kreativität und Übersetzung

Für die Übersetzerinnen war diese lexikalische Vielfalt oft Synonym für Kopfschmerzen, einerseits weil die Wortspiele sehr schwierig anzupassen sind, andererseits weil die Neubildungen oft mit kulturellen Problemen verbunden waren.


Wir werden nicht alle Wortbildungen der Pandemie aus Frankreich und Österreich analysieren können, aber wir werden zwei Übersetzungsschwierigkeiten genauer betrachten, die besonders gut zeigen, wie wichtig für unseren Beruf die interkulturellen Kompetenzen sind.


1) „Bleiben Sie gesund“... oder nicht!

Beginnen wir doch mit bleiben Sie gesund: ein sehr einfacher Satz, der wahrscheinlich keine großen Sprachkenntnisse erfordert, oder? Naja… Wenn man bleiben Sie gesund übersetzt, z.B. auf einer Website wie Deepl, bekommt man ohne Überraschung eine wörtliche Übersetzung:


Beispiel für eine wörtliche Übersetzung (Deepl)


Das Problem ist aber, dass wir in Frankreich sowas nicht sagen und Ihre Nachricht daher vielleicht nicht verstanden sein wird. Es handelt sich um ein Problem der Phraseologie: obwohl viele Menschen es glauben, erzählt keine Sprache dasselbe wie eine andere Sprache, und deswegen ist eine Übersetzung immer eine Anpassung. In der Sprachwissenschaft wie überall ist alles eine Frage der Gewohnheit, und es ist daher unmöglich zu wissen, wie man bleiben Sie gesund auf Französisch sagt, wenn man die französische Variante vorher niemals gelesen bzw. gehört hat!


Die richtige Übersetzung ist prenez soin de vous, wörtlich „passen Sie auf sich auf“. Im Vergleich zur deutschen Variante klingt dieser Satz weniger direkt, was wahrscheinlich kein Zufall ist: die französische Sprache liebt Euphemismen und Sprachwindungen, und im Vergleich können viele deutsche Formulierungen in französischen Ohren daher brutal klingen. Dies mag ein wenig klischeehaft aussehen, aber es gibt oft einen wahren Kern in den Klischees! 😉


2) Existiert die französische „Impfkluft“ denn nur in Frankreich?

Betrachten wir jetzt den französischen Ausdruck fracture vaccinale, der zwar mit „Impfkluft“ übersetzt werden kann aber einen wichtigen politischen und kulturellen Hintergrund hat.

Wörter sind politisch

Ein Wort mit politischen Wurzeln: Der Ausdruck fracture vaccinale ist nur ein Beispiel von vielen Ausdrücken, die nach dem Muster „fracture (wörtlich Bruch/Fraktur) + Eigenschaftswort“ gebildet wurde. Der erste Ausdruck ist im Jahre 1995 mit Jacques Chirac geboren, als der zukünftige Präsident Frankreichs die sogenannte fracture sociale („soziale Kluft“) als einen der Bestandteile seiner Wahlkampagne gemacht hatte. Mit der Zeit wurde dieser Ausdruck ein Muster für weitere Ausdrücke, und zwar z.B. fracture générationnelle („Generationenkluft“) und fracture numérique („digitale Kluft“).

Wörter sind kulturell

Ein Wort mit kulturellen Wurzeln: Es gibt zahlreiche Wörter, die mehr über ein Land oder eine Kultur sagen, als wir es denken, und fracture vaccinale gehört zu diesen Wörtern. Dieser Ausdruck hat einen engen Bezug zur sogenannten „republikanischen Gleichheit“ (auf Frz. „égalité républicaine“), die in Frankreich eine zentrale Rolle spielt und die die Ausländer oft überrascht.


In seinem Buch Ces impossibles Français zeichnet Louis-Bernard Robitaille ein düsteres Bild Frankreichs zu diesem Thema: „Die Gleichheit in Frankreich ist keine Leidenschaft, sondern eine Besessenheit, und zwar weil das Land besonders ungleich ist, ja sogar ein Land mit Kasten ist“. Wenn doch nur wenige Franzosen eine solche Darstellung erkennen würden, dachte Tocqueville ungefähr dasselbe: der berühmte Denker aus dem 19. Jahrhundert hat nämlich geschrieben, dass das französische Volk zwar Theorien sehr mag, aber sich für die Wirklichkeit und die Fakten gar nicht interessiert...


Die Idee der „Fraktur“ veranschaulicht jedenfalls perfekt diese Besessenheit nach einer Gleichheit, die in Frankreich alle Lebensbereiche beeinflusst und in den deutschsprachigen Ländern nicht zu finden ist. Die Ausdrücke wie fracture vaccinale sind aus diesem Grund sehr schwierig, wenn nicht unmöglich zu übersetzen: man kann die allgemeine Idee zwar mit Wortbildungen wie „Impfkluft“ übersetzen, aber man verliert dabei immer ein kleines Etwas, und zwar diesen innewohnenden kulturellen Bestandteil.


die „republikanische Gleichheit“ spielt eine zentrale Rolle in Frankreich



Übersetzung und Interkulturalität

Wie Sie sehen konnten, gibt es Übersetzungen, die besonders komplex sind, aber nicht weil die Sprache oder der Inhalt bzw. die Nachricht komplex sind, wie viele Menschen sich vorstellen könnten. Die Schwierigkeit unseres Berufes liegt u. a. darin, dass Übersetzung und Interkulturalität untrennbar sind und dass es daher keine gute Übersetzung ohne tiefe Kenntnisse über die beiden Kulturen und deren Denkweisen gibt. Und solche Kenntnisse erfordern natürlich eine lebenslange Arbeit!


Das Beispiel der fracture sociale zeigte es: was man nicht denkt, kann man schwierig ausdrücken bzw. übersetzen, deswegen hat Übersetzen immer ein wenig den Ruch von Verrat. Jedes Land hat seine Sorgen, seine Ideen und seine Wörter!


Quellen

ROBITAILLE, Louis-Bernard, Ces impossibles Français, Folio, 2010

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1 Comment


Guest
Mar 16, 2022

Gleich mal den Artikel geteilt und den Blog abonniert. :) Ich bin gespannt auf künftige Beiträge!

Irina https://irina-auf.tumblr.com/

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